Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Delmenhorst eine rasant wachsende Industriestadt, deren Bevölkerung sich im Zeitraum 1871–1900 vervierfacht hatte (von 4018 auf 16659 Einwohner). Der Zustrom von Arbeitskräften (vor allem aus Osteuropa) führte zu prekären Wohnbedingungen, das Wachstum der Stadt verlief ungeordnet und die öffentlichen Einrichtungen hielten mit der Entwicklung nicht stand.
1903 wurde Delmenhorst innerhalb des Großherzogtums Oldenburg zur »Stadt erster Klasse«, d. h. zur kreisfreien Stadt, erhoben. Diese Reform nutze der junge liberale Bürgermeister
Erich Koch (1875–1944, als E. Koch-Weser später Innen- und Justizminister der DDP in diversen Kabinetten der Weimarer Republik, 1933 Emigration nach Brasilien) und trieb den Umbau der Stadt planmäßig voran: So wurden 1907 für den Wettbewerb zur Bebauung der Neuen Bahnhofstraße (die bisherige Bahnhofstraße endete seinerzeit in Höhe der Stadtkirche) bis zur Langen Straße vor allem gezielt Architekten eingeladen, die der Reform- und Heimatschutzbewegung zuzurechnen waren. Im Ergebnis entstanden bis zum Ersten Weltkrieg mehrere stattliche Wohn- und Geschäftshäuser, die dem Besucher auf dem Weg vom Bahnhof zum Stadtzentrum einen angemessenen Eindruck einer modernen Industriestadt vermittelten.
Als nächstes wurde 1908 ein Wettbewerb zum Neubau des Rathauses (inkl. Feuerwehrhaus, Wasserturm und Markthalle) ausgeschrieben. Mit der Ausführung wurde schließlich der junge Architekt
Heinz Stoffregen (1879–1929) aus dem benachbarten Bremen beauftragt. Sein klares architektonisches Konzept überzeugte die Jury. Einzige Auflage: Stoffregen hatte die räumliche Konzeption des ebenfalls Erstprämierten Berliner Architekten
G. Emmingmann zu übernehmen. Eine sehr mutige Entscheidung, hatte der 29-Jährige Stoffregen bis dato doch erst zwei Wohnhäuser errichtet! Darunter 1905 das Wohnhaus für den Sanitätsrat Hermann Coburg, den Fabrikarzt der Nordwolle.
Stoffregens Vorschlag rief auch zahlreiche Kritiker auf den Plan, die lieber wie in anderen Städten zu dieser Zeit üblich, einen historisierenden Bau gesehen hätten. Progressive Entwürfe wurden zwar von der Architekturkritik gelobt, jedoch äußerst selten realisiert. Die Entscheidung für Stoffregen ist maßgeblich dem engagierten Auftreten des Bürgermeisters Koch und des Ratsherrn und Direktors der Anker-Werke Gericke zuzuschreiben.
Dank des Baus der Rathausanlage wurden die Reformideen des Deutschen Werkbundes innerhalb des Delmenhorster Bürgertums salonfähig. Heinz Stoffregen erhielt in den folgenden Jahren mehrere Aufträge für Wohn- und Geschäftshäuser, lokale Architekten (u. a. Himmelskamp, Twisterling) adaptierten seine Formensprache. So entstanden insbesondere an der Bismarckstraße und der Oldenburger Straße bis Anfang der 1920er Jahre zahlreiche Villen und Wohnhäuser für das gehobene Bürgertum.
Darüber hinaus bekam Stoffregen 1910 den Auftrag, einige höchst bemerkenswerte Fabrikgebäude für die Anker-Werke zu errichten: Oxydierhäuser, ein Trockenhaus und Lagerschuppen, die sachlich-nüchtern auf jede Dekoration verzichten und nur durch die Anordnung der Fensterbänder und die kubische Form der Gebäude wirken (die Gebäude sind leider der Abrisswut der 1960er Jahre zum Opfer gefallen). Die Bauten wurden in den folgenden Jahren in zahlreichen Publikationen beschrieben und abgebildet (u. a.
Industriebau 1912,
Werkbund-Jahrbuch 1913,
Profanbau 1914) sowie in den
Bauhausbüchern (Walter Gropius:
Internationale Architektur. Band 1) und machten sowohl die Anker-Werke als auch Stoffregen bekannt.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Rathausanlage mit der Errichtung der Markthalle (1919–20) und dem Ehrenmal (1925) komplettiert. Im nahen Umfeld entstanden weitere öffentliche Bauten: Finanzamt (1925, Stoffregen) und Polizeihaus (1925–27, Wohlschläger). Der Delmenhorster Stadtarchitekt Drieling bereicherte das Stadtbild u. a. mit Bauten im Klinkerstil-Expressionismus (Marktschule 1925, Arbeitsamt 1927–28, mehrere Wohnhäuser) sowie der Siedlung Düsternort.
Für die Fassadengestaltung des imposanten, 1928 neu errichteten, städtischen Krankenhauses konnte der renommierte Architekt
F. Höger (
Chilehaus Hamburg) gewonnen werden, der zudem zwei Friedhofskapellen entwarf.
Der ab 1929 als Stadtbaurat tätige W. Brasch prägte eine neue Ära und widmete sich vor allem dem sozialen Wohnungsbau: So bereicherte er Delmenhorst um eine von der Bauhaus-Architektur inspirierte modern-sachliche Flachdach-Siedlung.
Literatur:
Nils Aschenbeck:
Architektur, Skulpturen und Parkanlagen in Delmenhorst. Delmenhorst 1993
Nils Aschenbeck:
Heinz Stoffregen 1879–1929. Architektur zwischen Tradition und Avantgarde. Braunschweig/Wiesbaden 1990
Matthew Jefferies: Der Werkbund in Delmenhorst. Eine vergessene Episode der deutschen Design-Geschichte. In:
Gerhard Kaldewei (Hg.): Linoleum: Geschichte, Design, Architektur 1882–2000. Ostfildern-Ruit 2000
Walter Gropius:
Internationale Architektur. Band 1. München 1925 (2. veränderte Auflage 1927)
Gerhard Kaldewei, Birgit Lohstroh (Hg.):
Aufbruch in die Moderne. Die Delmenhorster Rathausanlage des Bremer Architekten Heinz Stoffregen 1908/1925. Bremen 2003
Gerhard Kaldewei (Hg.):
Linoleum: Geschichte, Design, Architektur 1882–2000. Ostfildern-Ruit 2000
Oldenburgische Landschaft (Hg.):
Baudenkmäler im Oldenburger Land. Wilhelmshaven 2017